müll ist cool

M1 Architekturtheorie ss 2023

einsemestriges Masterprojekt an der RWTH Aachen

 

thema: reuse in der architektur - in theorie und praxis

 

Wie wichtig ressourcenschonendes Bauen ist, wird uns durch Schlagzeilen, Berichte und Statistiken und soziale Medien zunehmend in Erinnerung gerufen, doch in der Praxis ist ein Wandel weg rein marktwirtschaftlichen Interessen kaum erkennbar. 

 

Dieses Projekt befasst sich mit dem Thema einer langfristigen und nachhaltigen Nutzung der gebauten Umwelt. Anhand von theoretischen und praktischen Ansätzen wurden Möglichkeiten zum Reuse und Recycling in der Architektur untersucht.


from waste to value

Inspiriert von Kevin Lynch’s Werk „Wasting Away“ wird die Wahrnehmung von Abfall in der Architektur untersucht. Dabei werden auch Ansätze erläutert, wie durch einen bewussten Umgang die Sichtweise auf Abfall verändert werden und damit ein Mehrwert für die Gesellschaft geschaffen werden kann. 

 

 

“Dirt is an idea bound to context and to culture.” - Lynch and Southworth 1990

 

 

In Kevin Lynchs posthum veröffentlichtem Werk "Wasting Away" aus dem Jahr 1990 wird betont, dass die Wahrnehmung von Abfall stark von kulturellen Einflüssen geprägt ist und sich je nach Kontext ständig verändert. Lynch führt uns vor Augen, dass das, was wir als Abfall betrachten, oft erst durch unsere kulturellen Vorurteile und gesellschaftlichen Normen so definiert wird. Was als Abfall gesehen wird und wie damit umgegangen wird, verändert sich laufend und je nach Kontext. Er fasst den Begriff des Abfalls dabei sehr weit und beschreibt damit alles, was für den Menschen als wertlos oder ungenutzt gesehen wird, also sowohl Müll als auch Überschuss an Ressourcen und Leerstand in unserer gebauten Umwelt.

 

Durch die Hinterfragung der gesellschaftlichen Konventionen, die die Wahrnehmung von Abfall prägen, können die Vorteile, die ein bewusster Umgang mit unseren Ressourcen bietet, zur Geltung kommen. Doch dieser Schritt kann nicht plötzlich geschehen – er erfordert eine kollektive Bewusstseinsbildung, die sich allmählich entwickelt und sich aus sich selbst heraus aufbaut. Um diesen Prozess zu verdeutlichen, werden im Verlauf des Essays mehrere Etappen skizziert, die von wichtigen Meilensteinen begleitet werden.

 

 

Abfall als gesellschaftliches Problem

Durch die westliche Wegwerfgesellschaft, die sich durch den jahrzehntelangen wirtschaftlichen Aufschwung entwickelt hat, türmen sich riesige Müllberge auf. In den USA entstanden so bereits in den Jahren um 1970 ca. 300 Millionen Tonnen an Abfall jährlich, was zum damaligen Zeitpunkt 70% des weltweit anfallenden Abfalls, bei nur 6% der Weltbevölkerung ausmachte.

 

Die Entsorgung der Abfälle geschah damals größtenteils über einfache Mülldeponien, Landfills genannt. Dies brachte vielfältige Probleme mit sich, so war zum einen der Platzverbrauch der Landfills enorm, viele anderwertig nutzbare Flächen wurden zu Deponien, zum andern wurden durch die fehlende Trennung des Abfalls auch viele giftige Stoffe in die Umwelt abgegeben. Besonders der Skandal um Love Canal erschütterte die Öffentlichkeit.

 

Entgegen den meisten Denkern seiner Zeit sah Kevin Lynch jedoch nicht nur die Herausforderungen, die durch Abfall und dessen Entsorgung entstehen, sondern auch das Potential, das durch dessen Nutzung entstehen könnte. Sein entscheidender Ansatz ist dabei der Umgang mit der Fragestellung „Waste for whom?“ Diese spiegelt sich in seiner Überlegung wider, dass durch gezieltes Recycling aus scheinbarem Müll wertvolle Rohstoffe zurückgewonnen und somit neuer Mehrwert geschaffen werden kann. Dies führt langfristig nicht nur zur Reduzierung der Entsorgungskosten, sondern auch zur Schonung natürlicher Ressourcen.

 

 

Abfall in der Bauindustrie

Wie richtig Lynch bei dieser Aussage lag, zeigt der aktuelle Bericht des Bundesverband Baustoffe - Steine und Erden. 2020 konnten in Deutschland über 90% des Abbruchsmaterials aus mineralischen Baustoffen recycled werden, und somit 13% der benötigen Primär-Rohstoffe ersetzen. Trotz dieser Erfolge besteht noch ein erhebliches Verbesserungspotential, da ein Großteil der Materialien nach wie vor energieintensiv zerkleinert und nur für untergeordnete Zwecke, wie etwa als Straßenunterbau eingesetzt wird. 

 

Eine effizientere Nutzung anfallender Baustoffe wird durch geplanten Rückbau und Urban Mining ermöglicht. Dabei geht es nicht nur um die Wiedergewinnung von Rohstoffen, sondern auch um die gezielte Entnahme bestimmter Materialien und Bauteile aus abzubrechenden Gebäuden. Diese Vorgehensweise, die Lynch als essentiell für einen bewussteren Umgang mit Abfall betrachtet, stellt sicher, dass Baustoffe sinnvoll und effizient wiederverwendet werden können. „A standing building is easier to mine that is its debris in a landfill.”

 

Ein herausragendes Unternehmen, das sich diesem Prinzip verschrieben hat, ist Rotor DC mit Sitz in Brüssel. Entgegen der gängigen Praxis, Gebäude als Ganzes mit schweren Maschinen zu zertrümmern und somit wertvolle Objekte und Materialien zu zerstören, hat es sich Rotor DC zum Ziel gemacht, diese Ressourcen zuvor zu demontieren. In weiterer Folge können diese aufbereitet und für einen erneuten Einsatz verkauft werden. Hochwertige Oberflächenverkleidungen wie Marmor und Fliesen oder auch Sanitärausstattungen und Innentüren lohnen sich besonders, aber auch Ziegel, Holzdielen und Pflastersteine können so wiedergewonnen werden. Für Bauteile mit erhöhten technischen Anforderungen lohnt sich dieses Verfahren nur bedingt, so müssen zum Beispiel Lampen oft neu verkabelt werden, um eine einwandfreie Funktionsfähigkeit garantieren zu können. Werden diese jedoch gut gewartet, kann ihre Lebensdauer weit über das übliche Maß hinaus verlängert werden. Strategien wie diese bringen nicht nur ökologische Vorteile, sondern auch wirtschaftliches Potential mit sich.

 

 

Video 1: Christophe Escalé von Rotor DC spricht im Interview über das Unternehmen.

 

 

Architektur mit Abfall

Wird der oben angeführte Umgang mit gebrauchten Materialien auch auf ganze Bauteile oder sogar Gebäudeteile ausgedehnt, lässt sich durch eine neue Konfiguration der Bestandteile außerordentlich spannende und zudem ressourcenschonende Architektur schaffen.

 

Aktuelle Beispiele zeigen auch, wie durch architektonisches Feingefühl ganze Gebäude transloziert und in neuer Form wiederverwertet werden können. Ein Vorreiterprojekt mit sozialem und pädagogischem Schwerpunkt wurde 2022 durch das österreichische Architekturbüro Gaupenraub+/- umgesetzt. Hier wurde eine leerstehende Feldscheune als partizipatives Projekt gemeinsam mit Schülern einer Schule für Bautechnik abgebaut und 80km entfernt an ihrem neuen Standort wieder aufgebaut. Wo benötigt wurden alterungsbedingte Schäden durch neue Bauteile ersetzt und gezielt in den Gesamtausdruck miteingearbeitet. Das durch die Verschmelzung aus Alt und Neu entstandene Gebäude trägt damit klar seine Geschichte nach außen und steht als Symbol für eine ressourcenschonende und effiziente Nachnutzung. 

 

 


 Abb. 1: Projekt des Studio Gaupenraub+/-: Schadhafte Elemente wurden ersetzt und neue Bauteile gewissenhaft in die Gesamtstruktur miteingearbeitet.

© Wolf, Robert

 

Besonders konsequent mit dem Thema der Nachnutzung von Bauteilen und des Einsatzes von Abfallstoffen in ihren Gebäuden geht das international tätige Büro Superuse Studios aus den Niederlanden vor. Ihr Ansatz beruht darauf, lokale Materialien gezielt in den Entwurfsprozess einzubeziehen und Abfallprodukte in die Gestaltung ihrer Gebäude zu integrieren. Am Beginn jedes Projekts steht dabei die Suche nach geeigneten lokalen Materialien. Erst wenn eine „Erntekarte“ mit den zur Verfügung stehenden Materialien erstellt wurde, beginnt der eigentliche Entwurf. Durch diesen, entgegen der weitläufigen Praxis, umgedrehten Entwurfsprozess können lokale Abfallstoffe, Abbruchmaterialien, Restbestände und Produktionsausschüsse in den Entwurf bestmöglich integriert werden. Für das Projekt „Buitenplaats Brienenoord“ stammen so zum Beispiel über 90% der Materialien von einem Vorgängergebäude am Bauplatz, die restlichen benötigten Materialien wurden im Umkreis von 2,5 bis 140 km „geerntet“.

 

Abb. 2: Die sogenannte „Harvest Map“ von Superuse Studios zeigt die Herkunft der eingesetzten Baustoffe für ihr Projekt Buitenplaats Brienenoord.

© Superuse Studios

 

Der dahinterliegende Gedanke zur Weiterverwendung des Bestands ist jedoch kein neuer. Bereits in der Antike wurden nicht mehr benötigte Gebäude als Rohstofflager für ihre Nachfolger verwendet. Neue Materialien waren nur mit erheblichem Aufwand zu beschaffen, auch die Bearbeitung war äußerst mühsam. Ein weiterer Grund, der dazu führte, hochwertige Bauteile aus bestehenden Gebäuden weiter zu verwenden war ihre Wirkung als Symbolträger. So ließ Karl der Große diverse Säulen, Skulpturen und Mosaike von Rom und Ravenna nach Aachen bringen, um seine Herrschaftslegitimation symbolisch zu rechtfertigen.

 

Abfall als Symbolträger

Dieser symbolische Wert, der durch das Verwenden von Abfall und Schrott entsteht, lässt sich in den letzten Jahrzehnten auch richtungsweisend in der Kunst und Architektur verstehen. Beispiele, wie die Watts Towers in Los Angeles verdeutlichen, wie aus scheinbar wertlosen Materialien Wahrzeichen entstehen können. Selbst in hochwertigen Kontexten lässt sich durch bewusste Inszenierung aus Abfall Kunst schaffen, wie die Gestaltung der Eingangsräume der Architekturbiennale 2016 durch Alejandro Aravena eindrucksvoll demonstrierte. Über 90 Tonnen an Überresten der Kunstbiennale aus dem Vorjahr wurden dabei neu interpretiert und zu einer Hauptattraktion der Architekturbiennale.

Abb. 3: Über 11km an Metallschienen und 10.000m2 an recycelten Gipskarton- platten wurden für die Architekturbiennale 2016 neuer Ausdruck verliehen.

© Hayes, Luke.

 

Auch in Zukunft wird Abfall in der Architektur eine große Rolle spielen. Zum einen durch die Wieder- und Weiterverwendung und Neuinterpretierung von Baustoffen, zum anderen aber auch indem wir Materialien verwenden, die über gute Eigenschaften hinsichtlich ihres Alterungsprozesses verfügen. Kevin Lynch stellt hier die entscheidende Frage: „Might materials also be chosen for their qualities in old age?” Wenn wir Materialien bewusst in unsere Bauwerke integrieren, die im Laufe der Zeit an Qualitäten gewinnen, kann nicht nur die Lebensdauer der Bauwerke erhöht werden, auch ihre Ästhetik und damit ihr symbolischer Wert kann über die Jahre sogar gesteigert werden. Die Tradition des Wabi-Sabi in der japanischen Kultur zeigt hier bereits eindrücklich, wie Alterung, Imperfektion und Reparatur als positiv wahrgenommen und zelebriert werden können.

 

 

Abb. 4 Japanische Wabi-Sabi Teetasse. Der bewusste Umgang mit Alterung und Abweichen von der Norm setzt ganz klare neue ästhetische Zeichen.

© Wikipedia Commons

 

Gleichzeitig darf auch ein gewisses Maß an Verschwendung nicht außer Acht gelassen werden. Ein völliger Verzicht auf Verschwendung schafft eine sterile Umgebung, die keinen Platz für Kreativität und Individualität lässt. Lynch führt in diesem Zusammenhang die kompakt geplanten Vorstadtsiedlungen der USA als negatives Beispiel an. Durch das vollkommene Fehlen von öffentlichen Freiräumen und „Waste Spaces“ erscheinen diese monoton und trostlos. Dem entgegen hält Lynch die Systematik von „scattered growth“ (unregelmäßiges Wachstum), wie von Jack Lessinger bereits 1963 beschrieben. Laut diesem sollen in der Stadtentwicklung bewusste Lücken freigehalten werden, die später gefüllt werden können. Diese Taktik ermöglich eine niederschwellige Anordnung durch Anwohner, bietet Raum für Kreativität und persönliche Entfaltung und schafft zudem einen städtebaulichen Puffer, mit dem auch auf spontane Entwicklungen reagiert werden kann. 

 

In diesem Sinne lässt sich sagen, dass der Umgang mit Abfall nicht nur Herausforderungen, sondern auch Chancen bietet. Die Anerkennung von Abfall als wertvolle Ressource erfordert ein grundlegendes Ändern unseres Denkens und Handelns. Durch einen bewussteren Umgang mit Ressourcen und eine kreative Integration von Abfall in Kunst, Architektur und Alltag können wir eine nachhaltige Zukunft schaffen. Kevin Lynchs Ansatz, Abfall als Ressource zu verstehen und zu nutzen liefert einen wichtigen Impuls für eine zukunftsfähige Gesellschaft, in der Abfall nicht länger als Belastung, sondern als wertvolle Quelle betrachtet wird. Dieser Wandel ermöglicht uns, unsere gebaute Umwelt neu zu denken und zu gestalten, indem wir Abfall in Wert verwandeln.

 

Referenzen

 

·      „90 Tonnes of Waste Form Entrance to Venice Biennale“. Dezeen. https://www. dezeen.com/2016/06/02/venice-architecture-biennale-2016-recycled-waste-exhi- bition-entrances-alejandro-aravena/. Zugriff: 8. August 2023. 

·      „Buitenplaats Brienenoord - Superuse Studios“. https://www.superuse-studios. com/projectplus/buitenplaats-brienenoord/. Zugriff: 9. August 2023. 

·      Bundesverband Baustoffe – Steine und Erden e. V., Hrsg. 2023. „Mineralische Bau- abfälle Monitoring 2020“. http://www.kreislaufwirtschaft-bau.de/Download/Be- richt-13.pdf. Zugriff: 8. August 2023. 

·      Gorgolewski, Mark. 2017. Resource salvation: the architecture of reuse. Hoboken, NJ: Wiley. 

·      Hebel, Dirk E., Felix Heisel, und Ken Webster. 2022. Besser-weniger-anders bauen: kreislaufgerechtes bauen und kreislaufwirtschaft: grundlagen, fallbeispiele, strate- gien. 1. Aufl. Boston: Birkhäuser. 

·      Lynch, Kevin, und Michael Southworth. 1990. Wasting away. San Francisco: Sierra Club Books. 

·      Meier, Hans-Rudolf. 2020. Spolien: Phänomene der Wiederverwendung in der Ar- chitektur. Berlin: jovis. 

·      „VinziRast am Land - Hühnerstall - Architekturobjekte - heinze.de“. https://www. heinze.de/architekturobjekt/vinzirast-am-land-huehnerstall/13129806/.
Zugriff: 9. August 2023. 

Video 1: Hlal Maram; Müller, Victor-Lennart; Wolf, Roland. Interview Rotor DC. 2023

 

Abb. 1:  Wolf, Robert. Projekt des Studio Gaupenraub+/-. 2022. 

 

Abb. 2:  Superuse Studios. Harvest Map Buitenplaats Brienenoord. (https://www. superuse-studios.com/projectplus/buitenplaats-brienenoord/). Zugriff 9. August 2023 

 

Abb. 3:  Hayes, Luke. Wand aus Gipskartonresten, Architekturbiennale Venedig 2016. (https://www.dezeen.com/2016/06/02/venice-architecture-bien- nale-2016-recycled-waste-exhibition-entrances-alejandro-aravena/) 2016. Zugriff 9. August 2023 

 

Abb. 4:  Wikipedia "Wabi Sabi". 2023. (https://de.wikipedia.org/wiki/Wabi-Sabi) Zugriff 9. August 2023